Flamenco ist der Oberbegriff für ein musikalisches und tänzerisches Phänomen, das Mitte des 19. Jahrhunderts in einem kulturellen Schmelztiegel durch eine multiethnische Randgruppe im Süden Spaniens, in Andalusien entstand. Die eigentlichen Anfänge, die Geburtsstunde, sind in der Prä-Flamenco-Ära zu suchen, als sich durch Interaktion und Verschmelzung andalusische (maurische), jüdische, kastilische, ziganische und subsahara-afrikanische Quellen transkulturell konstituierten.
Obwohl die Gitarre den Flamenco weltweit populär gemacht hat, sind der Cante (Gesang) und vor allem der Baile (Tanz) weitere Eckpfeiler dieser faszinierenden Musikkultur. Ursprünglich war die Gitarre ein reines Begleitinstrument für Tanz und Gesang und wurde Guitarra Rasgueado (Schlaggitarre) genannt. Aus den Tabulaturen der spanischen Barockgitarristen und -komponisten geht hervor, dass sich bereits im 18. Jahrhundert die beiden Techniken der Guitarra Rasgueado und der Guitarra Punteado, wie die gezupfte Spielweise genannt wurde, vereinigten.
Daraus entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte jenes virtuose Gitarrenspiel, das mit Paco de Lucía, seinen Höhepunkt erreichte, dessen Technik heute als Standard gilt. Auch heute noch wird im Mutterland des Flamenco, in Andalusien, das Gitarrenspiel zunächst zur Begleitung einfacher Lieder und komplexer Tänze erlernt, bevor man mit dem Solospiel beginnt, dessen Ziel dann höchste Virtuosität ist.
Die Technik der rechten Hand des Flamencogitarristen unterscheidet sich in vielen Punkten zur Klassischen Gitarre. Darüber hinaus kommen im Flamenco weitere Techniken zum Einsatz, die weder in der klassischen Gitarre noch in anderen Gitarrentechniken verwendet werden.
Das Rasgueado ist für den Laien das auffälligste Merkmal der Flamencogitarrentechnik. Um es richtig zu spielen, benötigt es monatelanges Üben. Das Problem beim Unterrichten, vor allem in Workshops, ist, dass das Rasgueado mit all seinen Variationen, de mano/abanico (aus dem Handgelenk), de dedos (mit den Fingern), in ca. drei Stunden erklärt ist. Dann kann der Schüler nach Hause gehen und monatelang üben, da ohne diese Technik das Flamencogitarrenspiel überhaupt nicht möglich ist. Wenn er sehr eifrig ist und schnell vorankommen will, hat er nach kurzer Zeit eine Sehnenscheidenentzündung und/oder sein Rasguedo klingt nicht schön, was meistens (auch bei anderen Techniken) damit zusammenhängt, dass zu schnell versucht wurde, Geschwindigkeit zu erreichen. Das Geheimnis liegt darin, die Bewegung jedes Fingers langsam und bewusst auszuführen. Schnelligkeit wird nicht durch Schnelligkeit erreicht (eine alte Weisheit). Wird das Rasgueado einfach „daherschrammelt“, klingt es wie Regentropfen auf Wellblech, also wie ein Geräusch ohne Puls und Metrum.
Da das Rasgueado viele Gitarristen zurückschreckt ein Flamenco-Stück anzugehen, sind alle Kompositionen in meinem jüngst erschienen Noten-Album Flamencolitos mit einer Anleitung zur alternativen Spielweise, also ohne Rasgueado, versehen. Selbstverständlich klingt mit der Originaltechnik alles authentischer, aber wer die nicht kann, bzw. erst erlernen muss, hat die Möglichkeit auf die Ossia-Notenzeilen am Ende des Stückes zuzugreifen.
Rasgueado
Abanico
1.2 Pulgar (Daumen)
Der Daumen spielt in der Flamencogitarre nach wie vor eine wichtige Rolle. Lange Zeit, bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts, gab es noch sehr viele Gitarristen, die Skalen, Läufe, Melodiefolgen nur mit dem Daumen spielten. Im Vordergrund steht jedoch die Tonerzeugung, also der Anschlag. Dabei ist die Winkelstellung der Hand und des Daumens zur anzuschlagenden Saite entscheidend. Wenn der Daumen im Apoyando (angelegter Anschlag) gespielt wird, ist der Ton am schönsten (man sieht inzwischen auch bei vielen E-Bassisten, dass sie bei nicht allzu schnellen Anschlägen am liebsten mit dem Daumen spielen, um eben einen möglichst vollen und runden Ton zu erzielen). Dieses Anlegen des Daumens entspricht auch dem folkloristischen Spiel auf allen erdenklichen Saiten- oder besser Zupfinstrumenten, egal ob Alpen, Anden, Karibik, Afrika oder Fernost, im Gegensatz zur klassischen Gitarre, wo es tunlichst vermieden wird. Grundsätzlich klingt alles transparenter, wenn der Daumen angelegt ist, egal in welcher Technik gespielt wird. Einen Flamenco-Gitarristen erkennt man an seinem Daumen. Er muss nur ein paar Saiten anschlagen - und schon weiß man, was er drauf hat.
Die Videos in der DVD und im Stream in Deutsch und Englisch erhältlich.
Pulgar
1.3 Arpegio
Es gibt das arpegio (Flamenco) und Arpeggio. In der Flamencogitarre wird auch hier der Daumen angelegt. Hat man jahrelang den Daumen beim Arpeggio nicht angelegt, ist diese Umstellung meistens nur mit großem Übungsaufwand möglich. Das geübte Ohr hört aber sofort, ob der Spieler den Daumen apoyando spielt.
Auch im Tremolo wird der Daumen apoyando (angelegt) gespielt.
Arpegio
1.4 Picado
Das Picado wird grundsätzlich apoyando gespielt. Also der Wechselschlag mit Zeige- und Mittelfinger (i-m), wie in der Klassikgitarre. Aber nicht mit dem Bewegung aus dem Grundgelenk der Finger, sonder aus dem Mittelgelenkt (siehe Paco de Lucía und inzwischen Millionen andere).
Hier die Technik der großen Meister (Paco de Lucía etc.)
Picado
1.5 Golpe
Der Schlag mit dem Ringfinger, dem Mittelfinger, dem Daumen, der Mano (ganzen Hand) ober-, unterhalb, oder auf den Saiten, in Verbindung mit einem Auf- oder Abschlag - oder frei.
Golpe-Techniken der Rumba-Anschläge.
Golpe
1.6 Alzapúa
Diese Technik gibt es nur im Flamenco. Der Daumen wird wie ein Plektrum benutzt, wobei die Technik auf einer Saite, auf einem Saitenpaar, oder auf drei Saiten ausgeführt wird.
Alzapúa
Das klingt jetzt vielleicht ziemlich akribisch und theoretisch. Aber für den Flamencogitarristen, der alles von der Pike auf gelernt hat, ist das ganz normal und selbstverständlich. Nicht umsonst sind meine Publikationen für Flamencogitarre nach wie vor weltweit anerkannte Lehrwerke, die auch in Spanien für den Unterricht verwendet werden. War ich doch einer der ersten, der die Techniken, die seit dem 16./17. Jahrhundert von unzähligen Gitarristen über Jahrehunderte hinweg entwickelt wurden, schon vor 30 Jahren in Wort, Bild und Ton erklärt und gezeigt hat.
2. Palos (Gattungen, Stilarten)
Im Flamenco gibt es verschiedene Palos (Gattungen), die ursprünglich Tanz- und/oder Gesangsformen waren, aber zum größten Teil auch heute noch Gültigkeit haben. Sevillanas, Bulerías, Soleás, Alegrías, Siguiriyas, Fandangos, dazu die hispanoamerikanischen Tangos, Rumbas, Guajiras, Peteneras etc. Sie alle haben ihren eigenen Compás (s.u.), ihre Struktur, ihren unverwechselbaren Charakter, das sogenannte Aire oder Soniquete (Groove) und werden in der entsprechenden Tonart, in Dur/Moll und/oder Dorico (altgriechische Tonleiter - die heutige phrygische Kirchentonart, auch andalusische Kadenz oder Flamenco-Modus genannt) gespielt. Diese Grundformen (Klassifikationen) unterteilen sich in etwa 30 weitere Derivate. Flamencokünstler, die sich noch nie begegnet sind, egal auf welchem Kontinent, sind sofort in der Lage, gemeinsam zu musizieren und zu tanzen, wenn alle den gewählten Palo nicht nur kennen, sondern auch können.
Der Flamenco bzw. seine Palos sind nie komponiert worden. Wenn es Arrangements gibt, dann mit viel Freiraum für die Aneinanderreihung von Falsetas (Riff/Lick), oder Taconeos (Fußarbeit der Tänzerin), also mit freiem Zugriff auf die unzähligen Schubladen einer großen Kommode, aber nie die Verbindung zu den Wurzeln des Palos verlierend. Wobei der Inhalt der jeweiligen Schublade, die Falseta, das Pattern, der Schritt oder die Schrittfolge, irgendwann entstanden ist und die Form der Kommode, das jeweilige Genre mit seinen festgelegten Rhythmen (siehe Compás) und Regeln im Baile (Tanz) und Cante (Gesang) vorher gelernt und geübt wurde. Die weit verbreitete Meinung, im Flamenco sei alles spontan oder gar improvisiert, ist völliger Unsinn.
Ein Solostück auf der Flamencogitarre besteht aus dem typischen Rhythmus (Compás) des jeweiligen Palos und der Aneinanderreihung von Falsetas, die durchaus vom jeweiligen Interpreten kreiert oder von anderen Gitarristen übernommen und einstudiert wurden. Eine Ausnahme bildet die Rumba, bzw. die hispanoamerikanischen Palos mit binärer Metrik, in denen durchaus, wie in anderen Genres auch, endlos improvisiert werden kann.
Hier ein paar Beispiele von Palos:
Palos: Toque (Gitarrenspiel)
Palos: Baile (Tanz)
Palos básicos
3. Compás (Rhythmus - Takteinheit)
Eine weitere Komponente ist der sogenannte Compás (wird nicht wie Kompass ausgesprochen, sondern mit Betonung auf der Endsilbe - Compaaas) also der Rhythmus bzw. die Takteinheiten, oder auch Patterns in den oben genannten Palos. Dies ist für uns Mitteleuropäer, eigentlich für alle Nichtspanier, eine weitere große Hürde, da uns dieser Compás, mit dem alles steht und fällt, nicht „im Blut“ liegt. Da die 2-4-Betonung der afro-amerikanischen Popularmusik, im Gegensatz zu unserer gewohnten, abendländischen 1-3-Betonung, die Musikern hier in Europa, ja weltweit, mehr oder weniger „intus“ haben, dauert die Aneignung der Flamenco-Rhythmen unverhältnismäßig lange. Neben den Palos mit binärem (2/4 und 4/4) und ternärem (3/4-Takt) gibt es sehr viele, die meistens mit einem sogenannten Aksak- oder, wie die Andalusier sagen, Amalgama-Takt, also einem alternierenden Takt, der zwischen 6/8- und 3/4-Takt wechselt, oder reziprok. So ein Compás kann dann wie folgt aussehen:
Reloj = Flamenco-Uhr; Palmas = Händeklatschen; Pie = Fußtippen; Compás = Zählweise im alternieren Takt.
Diese Aksak-Rhythmen gab es bereits zur Zeit der maurischen Besetzung Spaniens (789 - 1492) bzw. im Maghreb und Orient. Im mittelalterlichen Europa tanzte und musizierte man überwiegend zu Dreier-Taktarten. Erst mit der Verschleppung und Versklavung der Subsahara-Schwarzen, zunächst nach Portugal und Spanien, später nach Amerika, wurden binäre Taktarten eingeführt. Da die Schwarzen in der Lage waren, aus einem ungeraden Takt einen geraden zu machen (Kontratanz, Contredanse, Contradanza, Countrydance), entstanden durch die Faszination der Hemiole diese alternierenden Taktarten (Andalucía Baja, Karibik, vor allem Kuba und Haiti).
In der Barockzeit war das Komponieren im alternierenden Takt vor allem in Spanien und Hispano-Amerika üblich. Diese Form beeinflusste sogar unseren großen Meister Johann Sebastian Bach in seiner Sarabande und Chaconne (Chacona), die wahrscheinlich afro-peruanischen Ursprungs ist. Wenn also der Compás, der dem jeweiligen Palo (s.o.) zugeordnet ist, nicht schlafwandlerisch beherrscht wird, ist ein authentisches Spiel unmöglich. Denn neben dem Rhythmus ist auch die Kenntnis der Struktur sowie deren harmonischer Ablauf (Kadenz) zu beachten.
Näheres zu den Flamenco-Rhythmen ist unter El Compás zu finden.
Zum Erlernen dieser Rhythmen erfand ich schon in den 80er-Jahre ein spezielles Flamenco-Metronom. Anfangs war es noch ein Gerät, später programmierte ich dann eine Software / App..
Compás / Amalgama / Bulerías
Flamenco-Uhr mit Beginn der Zähweise des jeweiligen Palos. Akzente auf der Uhr: 3 - 6 - 8 - 10 - 12.
Unterricht
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